FRIEDRICH DÜRRENMATT: DER RICHTER UND SEIN
HENKER, ODER WARUM DIE DEUTSCHEN BESSERE ROMANE BRAUCHEN (BRAUCHTEN?).
Friedrich Dürrenmatt (*1921-†1990) hätte sich solch einen Ort nicht vorstellen können, um eine erste
Bekanntschaft mit seinem Opus glimpflich vonstatten gehen zu lassen: Das kleine
Auditorium des „Amerikanisch-Paraguayischen Kulturzentrums“ in Asunción,
Paraguay. Es war das Jahr 1970 oder 1971. Obgleich seine Bühnenwerke schon
damals weltweit bekannt waren, und solch ein Dekor wäre auch in irgendwelchem
kleinen afrikanischen Land plausibel gewesen.
Es ging um das Theaterstück Die Physiker (1962), der zweite
Welterfolg des schweizerischen Dramatikers nach Der Besuch der alten Dame
(1956), den ich nur Jahrzehnte nachher im englischen Fernsehen anschauen würde,
während meiner Londoner Jahre (1977-1985, 1988-91). Die Physiker von
Dürrenmatt gilt als überzeugende Metapher über die Gefahr des technischen
Fortschrittes, geriete er doch in die Hände von Welt-Hegemonisten. Daher auch
die Verantwortung von schlauen Wissenschaftlern (der Ethik als ultima ratio
zugewandt) die sich selbst als Verrückte tarnen, um zu vermeiden, dass ihre Entdeckungen
von den Kräften des Bösen pervertiert werden.
Solch eine Thematik im Kontext jener militärischen Diktatur war ein
kühnes Vorhaben, da die Verzerrung und die Ausuferung der Macht der
Wissenschaft und Technik auf andere
Gebiete der Gesellschaft „weiter-geleitet“ werden konnte – die Neigung zum
militärischen Totalitarismus, nebenbei.
Jedoch schien diese Möglichkeit den Machtinhabern damals sehr gering,
oder sie erschient nicht in ihrem Denkkonzept.
Aus meiner ersten Begegnung mit Dürrenmatt entstand auch eine ganz
unerwartete Nebenwirkung: Ich bekam eine bessere Einleitung in die Welt der
klassischen Musik. Einer der Hauptschauspieler derjenigen Inszenierung,
H.de.l.R., entstammte einer Familie die einen großen Elektronikladen an der
Ecke der Straßen Estrella und 15 de Agosto besaß. Die
Musikkassetten waren eben gerade angekommen, und dank einem unerwarteten
Geldüberschuss, entschloss ich mich, meine Einweihung mit Bach und Händel zu
bejubeln. Als ich dabei war den Regal mit den neuesten Musikerscheinungen zu
inspizieren, kam der Schauspieler von Dürrenmatt vorbei, und fragte höflich, ob
er mir hilfreich sein könne. „Händel, Wassermusik“, sagte ich, auf eine Interpretation von einem bekannten
europäischen Dirigenten zeigend. „Nein, dies ist besser...“, „La Grande
Ecurie & la Chambre du Roi“, „mit Altinstrumenten“. Dann Bach,
ursprünglich wollte ich eine Aufnahme von Walter Carlos, dessen
Interpretationen mit einem „Synthesizer“ damals sehr bekannt waren, die
elektronische Bearbeitung genau für den kurzfristigen Appetit der „Easylisteners“ konzipiert.
„Nein...“, sagte der Schauspieler, „Sie brauchen Authentisches...“, und verwies
auf eine Aufnahme von bekannten Stücken von Back, mit einer traditionellen
Orgel. Ich brauchte mehr als ein Jahrzehnt, um zu begreifen, dass der
Schauspieler von Dürrenmatt mir die richtige Orientierung verschenkte.
Bessere Bekanntschaft mit der Prosa Dürrenmatts gelang mir nun Anfang
der Neunziger Jahre. Es war in Paris, Frankreich, und zuerst kam Grieche
sucht Griechin (1955), eine humorvolle Fantasie über die Suche eines
griechischen Mannes nach der passenden griechischen Frau, gerade in Paris;
geschrieben, wenn ich mich daran gut erinnern kann, in ein paar Monaten, da
Friedrich Dürrenmatt Geld brauchte, um eine chirurgische Intervention seiner
Frau zu ermöglichen. Jedoch entlarvt sich dieser Roman, wie fast alle Werke des
Autors, auf verschiedenen Ebenen. Da gibt es eine gelungene, subtile, manchmal
auch mit eleganten satirischen Glossen pigmentierte Porträtierung der französischen
Gesellschaft und Politik, in denjenigen Jahren. Und dieses Substratum
bleibt geltend, bis dato, Scheinwerfer die weiterhin die heutigen Verhältnisse
im selben Land treffend illuminieren. Es geht, vor allem, um die Rolle der Amourösitäten,
sei es res publica, sei es privatim, im Kern der politischen Macht - und sie haben die Hände voll. Rien
de nouveau sous le soleil.
Alphons Clenin, der Polizist von Twann, fand am Morgen des dritten November (...) einen blauen Mercedes, der am Straßenrande stand. Es herrschte Nebel, wie oft in diesem Spätherbst...“[1] (1975 Film, Regisseur Maximilian Schell)
Der Richter und sein Henker (1950) erschien
zuerst in acht Folgen in der Wochenzeitschrift Der Schweizerische Beobachter,
zwischen 1950 und 1951, und erreichte großen Erfolg. Die erste englische
Fassung wurde 1954 veröffentlicht, eine erste Verfilmung entstand schon in
Deutschland in 1957 und in Großbritannien in 1961, British Broadcasting
Corporation (BBC). Es folgten fünf neue filmische Adaptionen, plus eine
Oper, 2008[2].
Man könnte diese Novelle einerseits als einen typischen Kriminalroman
bezeichnen, andrerseits als eine Art philosophischer Thriller, dessen
Länge, hundert-achtzehn Seiten in der deutschen Taschenbuchausgabe, die Relevanz und der Dichtigkeit der darin
vorhandenen Substanz nicht abmindert. Es ist auch nicht verboten, eher
wünschenswert, zu behaupten, Der
Richter und sein Henker sei ein existentialistischer Kurzroman, in
dem ein desillusionierter Einzelgänger (Kommissar Bärlach, eine Art
„Steppenwolf“ à la Herman Hesse) und ein kultivierter jedoch im Grunde nihilistischer
internationaler Verbrecher (Gastmann)
sich einen erbitterten Kampf über
Jahrzehnte widmen. In der letzten Begegnung der zwei Feinde in der Schweiz
erscheint auch Tschanz, ein neidischer, gieriger Inspektor der schweizerischen
Polizei, der den Entschluss schon lange fasste, sich alles zu erlauben, um eine
glänzende Karriere zu erreichen. Die
Frau eines Kollegen eingeschlossen.
Ein wichtiger Grund für Tschanz‘ Abneigung gegenüber Schmied waren
dessen gesellschaftliche
Vorteile. Er wurde in eine reiche Familie geboren, und konnte eine höhere Schule besuchen, zwecks Erlernens von Latein und Altgriechisch.
Ein Polizist findet einen blauen Mercedes, ein wenig quer am
Straßenrand geparkt, an einem nebligen Morgen. Im Inneren des Wagens befand
sich die mehr hängende als liegende Leiche des Leutnants Ulrich Schmied.
Kommissar Bärlach, sofort informiert, entscheidet, die ganze Angelegenheit
solle „geheim bleiben“:
„Man weiß zu wenig, und die Zeitungen sind sowieso das
Überflüssigste, was in den letzten zweitausend Jahren erfunden worden ist.“[3]
Aber nur er weiß das Leutnant Schmied, als „Doktor Prantl, Privatdozent
für amerikanische Kulturgeschichte in München“[4] camoufliert, einem suspekten
„Weltbürger“ (Gastmann) auf den Hals geschickt wurde.
Der Roman beginn im Nebel und wird bis zum Ende vom Nebel begleitet.
Das Begräbnis des Leutnants Schmied,
„Nebel, „Nebel“… (1975 Film)
Kommissar Bärlach (Martin Ritt) versucht den Nebel zu durchdringen, in
der Hoffnung, den Mörder auch dort, auf dem Friedhof selbst, aufzuspüren…(1975 Film)
Die Kollegen des ermordeten Polizisten trauen um den Verstorbenen…
(1975 Film)
Inspektor Schanz (Jon Voight) versucht, kurz danach, von der Partnerin
(Jacqueline Bisset) des Verstorbenen zu profitieren… (1975 Film)
Gastmann (Robert Shaw), „Verbrecher, Gelegenheitsphilosoph und
Nihilist“ „Du mußt dich beeilen,
Bärlach, du hast nicht mehr Zeit. Die Ärzte geben dir noch ein Jahr, wenn du
dich jetzt operieren läßt.“[5] (1975 Film).
Die „Geschichte“ zwischen Bärlach und Gastmann begann in Istanbul, in
der Türkei, vor dem Krieg, als der Kommissar dabei war, die türkische Polizei
auszubilden. In einer multiethnischen Spelunke inmitten Wolken von starkem
Alkohol, Gastmann (der damals sich anders nannte) wettet, dass er ein
Verbrechen eingehen würde, welches Bärlach als Kriminalist nicht nachweisen
könnte. Kurz danach stieß Gastmann einen deutschen Geschäftsmann aus der Brücke
in den Bosporus, der, trotz des Rettungsversuche Bärlachs, sich ertrank. Vor
der Justiz konnte Barlach keinen Beweis
vorlegen, Gastmann gleichzeitig betonend, der Geschäftsmann habe einfach
Selbstmord begangen, da er vor der Pleite stünde.
Das ist eine schwer zu ertragende, fast erniedrigende Niederlage für
einen Kriminalisten, der noch dazu sich als guter Mensch betrachtete.
Und Jahrzehnte nachher, erschien Gastmann wieder in der Schweiz,
jetzt als „argentinischer“ Weltbürger
und ehemaliger Sondergesandte in China, Millionär und kosmopolitischer
Schöngeist (auf der Oberfläche), der sogar eine Einladung der französischen
Regierung, in der Académie Française akzeptiert zu werden, ablehnte.
Die Stärke dieses Romans beruht, zuerst, auf einem klugen Kaleidoskop
von Schlüsselfragen des zwanzigsten Jahrhunderts. Es gibt viele Verbrechen, die
unentdeckt bleiben, und manchmal gelingt es sogar dem Verbrecher, die Schuld an
jemand anderem zu schieben. Eine überragende ethische Frage: Kann man einer
Person ein Verbrechen vorwerfen, das sie nicht begangen hat, um sie für eine
andere Straftat zu bestrafen, die sie vor langer Zeit begangen hat?
Die Handlung und die philosophischen Leitmotive, werden von einer substantivierten, extrem
zusammengepressten Sprache untermauert,
deren Muskel völlig angespannt sind. Es ähnelt einer gut-geölten
Pistole, deren Kugel sich wie Laserstrahlen durch den ganzen Text ereilen, den
„Nebel“ im Roman durchleuchtend.
Es gibt kein überflüssiges Wort, daher braucht man kein neues
hinzuzufügen.
Sprache, als bestünde sie nur aus Knochen. Was einen subtilen und
plakativen Humor sowie geschickt gewählte Bezüge zu Musik und Malerei nicht
ausschließt, die im Text unprätentiös erscheinen.
Bärlach und Schanz versuchen eine ultra-elegante Soirée im Haus
Gastmanns auszuspionieren, mit hochrangigen Politikern, Geschäftsleute und
Künstlern. Sie werden jedoch von einem riesigen Hund, eher eine Bestie,
angegriffen. Schanz erschießt den Hund mit seiner Pistole. Einer der
Prominenten in jener Soirée Gastmanns, Nationalrat von Schwendi, wird
nachher vor dem Vorgesetzten Bärlachs, Dr. Lucius Lutz, energisch protestieren.
Wie sei doch die schweizerische Polizei auf die Idee gekommen, ein raffiniertes
Treffen von der créme de la créme der nationalen und internationalen
Geschäftswelt, dazu mit hochkarätigen Künstlern bespickt, in solch einer
illegalen und ungeschickten Art und Weise zu torpedieren:
„...man erschießt nun einmal keinen Hund, wenn Bach gespielt wird.“[6]
Der Richter und sein Henker wurde, kurz nach
seiner Erscheinung, fast überall eulogisiert, sogar als die Ankunft einer neuen
Gattung in der deutschsprachigen Literatur zelebriert. Selbst der Rückcover von
der Taschenausgabe markiert diese „Zäsur“ in der gegenwärtigen Literatur im
deutschen Sprachraum:
„Einer der interessantesten zeitgenössischen Vertreter bereichert
die deutsche Literatur mit diesem spannungsreichen Roman um ein Genre, das sie
kaum kennt, um den der Tradition Chestertons und Graham Greenes folgenden
literarischen Kriminalroman.“[7]
In der Zeitung Basler
Nachrichten erschien eine lesenswerte Rezension:
„Der Roman, der nicht gefühlswarm und in unermüdlicher Einfalt die
Torheiten eines pseudo schweizerischen Alltags und des durchschnittlichen
Bildungsgang durchschnittlicher Mittelschüler beschwatzt, sondern zugleich
phantasievoll und mit einem gewissen angeborenen Verführungsrecht aus dieser
schweizerischen Wirklichkeit (die eine Unbekannte ist!) heraus seine Bilder und
Gestalten schafft, ist selten. Das ist schlimm, denn Romane für die Bildung
eines Volkes ungefähr so wichtig sind wie Schulen. Was wären die Engländer ohne
ihre Romane, und was wären die Deutschen, wenn sie bessere Romane hätten.“
Zweifellos: Es geht um eine relativ elegante Rüge des "kleinen
Kantons", gerichtet auf den "großen Kanton im Norden". Die
Atmosphäre der unmittelbaren Nachkriegszeit hatte sich kaum verwelkt, die
großen Anschuldigungen waren da, und warteten auf irgendwelche Antwort. Es wäre doch hochriskant, wenngleich auch
amüsant, aus dem geraden Zitierten die Schlussfolgerung abzuleiten, der II.
Weltkrieg hätte vermieden werden können, hätten die Deutschen doch so gute
Roman wie die Engländer gehabt.
Es wird hier von „Romanen“ - nicht von „Literatur“ gesprochen.
Und Romanen sogar in einer bestimmten Tradition, „story-telling“. Da
haben die Engländer, besser ausgedruckt, die „Briten“, einen kolossalen Korpus
über die letzten Jahrhunderte aufgebaut, dessen Äquivalenz in anderen
Nationalliteraturen kaum zu finden sei. Eines sind wir sicher: Die Franzosen
werden Einspruch erheben.
„The English novel“ ist eine privilegierte Spezies, und
fungiert, noch heutzutage, als ein zuverlässiger Anker jener Kultur, jener
Gesellschaft. Der Roman ist auch viel konkreter, fassbarer und bodenständiger,
als eine Symphonie oder sogar ein Gemälde. Er ist ein „tragbares Zuhause“.
Anker, Diversität, Hoffnung aber ebenfalls Mahnung, der Imagination
freien Lauf zu geben, wissend, es sei auch nötig, sich zu „beschränken“. Eine
bessere Schule darf man nicht erwarten.
Gute Romane haben schon die Deutschen veröffentlicht. Ob sie viel
bessere hätten schreiben sollen, bleibt ein Fragezeichen. Nicht zu vergessen,
jedoch, dass von den drei deutschsprachigen Menschen, die den Nobel Preis von
Literatur über die letzten zwanzig Jahre erhielten, zwei wurden in Österreich
geboren, und der dritte in Rumänen.
Aber das ist nur einer von vielen Indikatoren. Und vielleicht sogar
nicht der relevanteste. Friedrich Dürrenmatt bewies, auf jeden Fall, dass mit
der deutschen Sprache eben so gute
Romane, wie diejenigen der Engländer, geschrieben werden können.
[1]Dürrenmatt, Friedrich. Der Richter und sein Henker. Mit 14 Zeichnungen
von Karl Staudinger. Rowohlt. 1955. S. 3.
[2]Oper von Franz Hummel, am 8.11.2008 in Erfurt uraufgeführt.
[3]Dürrenmatt, Friedrich. Der Richter und sein Henker. Mit 14 Zeichnungen
von Karl Staudinger. Rowohlt. 1955.
[4]S. 47.
[5]S. 64.
[6]S. 54.
[7]Rowohlt Verlag,
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